Ob sich Immobilieninvestments rechnen oder nicht, hängt stark von den Lebenszykluskosten ab, die bisher nach der 20/80-Faustregel «kalkuliert» wurden. KI-basierte Simulationen bringen genauere Ergebnisse – und sie bieten ein enormes Potenzial zur Gestaltung der ökonomischen Nachhaltigkeit von Immobilien.
Die nachhaltige Entwicklung unserer Welt beschäftigt auch die Immobilienwirtschaft seit einigen Jahren stark. Professionelle wie auch öffentliche und private Investoren, Eigentümer und Mieter sind bestrebt, den neuen ökologischen, sozialen, aber auch wirtschaftlichen Anforderungen gerecht zu werden. Während in den letzten Jahren vor allem die ökologische Dimension der Nachhaltigkeit im Vordergrund stand, rücken zunehmend auch soziale Themen wie beispielsweise bezahlbarer Wohnraum in den Brennpunkt. Aber wie steht es mit der Wirtschaftlichkeit? Immobilien sind langlebige Objekte, die einerseits Geld erwirtschaften können, aber anderseits über den ganzen Lebenszyklus viel kosten. Zu einer nachhaltigen Immobilienentwicklung gehören nicht nur ökologische oder soziale Aspekte wie zum Beispiel die Reduktion der CO2-Emissionen oder eine mieterfreundliche Entwicklung, sondern auch ein sorgfältiger Umgang mit den Lebenszykluskosten. Das bedingt, dass sich Immobilieneigentümer bei jeder Investition Gedanken darüber machen, welche Kosten die geplanten Massnahmen im Lebenszyklus der Immobilie auslösen.
Von Heuristik zu Präzision
Leichter gesagt als getan. Denn bisher waren kaum fundierte Aussagen zur Entwicklung der Lebenszykluskosten möglich. In der Praxis wurden darum bis anhin häufig heuristische Modelle verwendet – beispielsweise die bekannte 20/80-Faustregel. Sie besagt, dass die Erstellungskosten nur 20 Prozent über die ganze Lebensdauer eines Gebäudes ausmachen und 80 Prozent nach der Erstinvestition anfallen, also in Unterhalt, Instandsetzung, Rückbau usw. zu Buche schlagen. Wissenschaftliche Grundlagen gab es dazu bisher keine. Doch mit der zunehmenden Digitalisierung, den heute vorhandenen Daten, neuen Technologien und Modellen der künstlichen Intelligenz oder kurz KI (englisch: «Artificial Intelligence», AI) lassen sich nun erstmalig die sogenannten Lebenszykluskosten konkretisieren. Private wie auch professionelle Investoren und Eigentümer erhalten damit ein wichtiges Instrument, um die ökonomischen Anforderungen der Nachhaltigkeit wirkungsvoll zu erfüllen.
Unter den Lebenszykluskosten einer Immobilie wird heute übereinstimmend die Summe aller Kosten verstanden, die bei der Erstellung, Bewirtschaftung, Instandsetzung und Liquidation respektive Wiederverwendung eines Gebäudes während der gesamten Lebensdauer anfallen. Oft werden dabei die Grundstücks- und die Kapitalkosten (Eigen- und Fremdkapital) ausgeschlossen, ebenso die Kosten für nutzerbedingte Umbauten und Erweiterungen oder von später geänderten Nutzeranforderungen. Kenntnisse über die Lebenszykluskosten einer Immobilie sind vor allem in drei Anwendungsbereichen relevant: erstens in der langfristigen Beurteilung der ökonomischen Nachhaltigkeit verschiedener baulicher Lösungsalternativen, zweitens in der Budgetierung der langfristigen Kosten einer Bauinvestition und drittens in der Optimierung einer Immobilie respektive eines Immobilienportfolios mittels Benchmarkings.
Die sinnvolle Begrenzung der Lebenszykluskosten auf Verwaltungs-, Betriebs-, Instandsetzungs- und Liquidationskosten oder die zusätzliche Berücksichtigung von Grundstücks- und Kapitalkosten hängt von der spezifischen Fragestellung ab. Eine integrale Betrachtung der Lebenszykluskosten ist angezeigt, wenn die mit einer baulichen Investition verbundenen Kosten oder die Rendite vorherzusagen sind. Hingegen genügt beim Kostenvergleich von verschiedenen Lösungsalternativen auf demselben Grundstück sowie bei der Optimierung der Erstellungs- und Nutzungskosten einer Immobilie in der Regel der reduzierte Ansatz. Bei einer Analyse der Lebenszykluskosten ist auf jeden Fall immer zu klären, wie weit der Blick in die Zukunft reichen soll und wie diese Kosten verlässlich berechnet werden können.
Der Betrachtungszeitraum ist entscheidend
Es ist allgemein bekannt, dass die Genauigkeit von Prognosen abnimmt, je weiter sie in die Zukunft gerichtet sind. Bei der ökonomischen Bewertung von Immobilien hat sich daher weltweit ein Zeitraum von zehn Jahren etabliert. Für die Analyse und Steuerung der Lebenszykluskosten einer Immobilie genügt dieser Zeithorizont allerdings nicht, denn gewichtige Kosten fallen nicht innerhalb der ersten zehn Lebensjahre an. Es könnte daher sinnvoll erscheinen, die technische Lebensdauer eines Gebäudes als den zu betrachtenden Zeitraum zu wählen. Noch vor nicht allzu langer Zeit wurde diese auf 70 bis 100 Jahre geschätzt. Aktuell wird jedoch immer öfter bereits in einem vergleichsweise jungen Alter von 40 bis 60 Jahren der vollständige Ersatz eines Gebäudes durch Abriss und Neubau in Betracht gezogen. Die massgeblichen Gründe hierfür liegen weniger in Alterung und Abnutzung, sondern vielmehr in Nutzungsänderungen, gestiegenen Komfortansprüchen sowie den Einflüssen neuer Technologien und Gesetze. Ein zusätzlicher Grund für eine Verkürzung des Betrachtungszeitraums liegt im Diskontierungseffekt von Zahlungsströmen, die weit in der Zukunft liegen. Selbst bei den derzeit extrem niedrigen Zinssätzen reduziert sich der heutige Wert einer Zahlung, die in 40 Jahren erfolgt, auf weniger als 20 Prozent des ursprünglichen Betrags. Mit anderen Worten: Ausgaben, die erst in weiter Ferne anfallen, haben einen sehr begrenzten Einfluss auf die dynamisch ermittelten Lebenszykluskosten.
Zuverlässigkeit der Berechnung
Für die Berechnung der Lebenszykluskosten sind computerbasierte Simulationen erforderlich. Die Grundlage hierfür bilden grosse Datenmengen, welche aus einer Vielzahl realisierter Bau- und Instandsetzungsprojekte sowie aus effektiven Bewirtschaftungskosten erhoben werden können. Idealerweise werden dabei Erfahrungswerte von ähnlichen Bauten in derselben Nutzungskategorie erhoben. Immobilieneigentümer sollten heute in der Lage sein, eindeutig definierte Kennzahlen zur Verfügung zu stellen, da die entsprechenden Grundlagen und Erhebungsmethoden standardisiert sind. Auf dieser Grundlage können mithilfe von Methoden der KI Muster identifiziert und schliesslich Modelle abgeleitet werden. Letztere ermöglichen eine präzise Berechnung der Lebenszykluskosten, basierend auf nur wenigen charakteristischen Merkmalen eines Gebäudes.
Eine Auswertung von keeValue.ch und pom+ anhand von 4.000 Immobilien im Besitz von professionellen Investoren wie Pensionskassen und Versicherungen verdeutlicht, dass sich das Verhältnis von Erstellungskosten zu kumulierten Kapitalkosten mit zunehmender Nutzungsdauer bei sämtlichen Objekttypen verringert. Die Abbildungen 1 bis 4 (s. oben) zeigen, welchen Anteil die Erstellungskosten respektive Bewirtschaftungs- und Erneuerungskosten an den gesamten Lebenszykluskosten von Bürobauten, Gewerbebauten, Schulbauten und Wohnbauten haben. Die Kapitalkosten sind kumuliert mitberücksichtigt. Abgesehen davon, dass die 20/80-Faustregel damit widerlegt werden kann, lassen sich aus der Analyse weitere spannende Erkenntnisse gewinnen. Bei einer Nutzungsdauer von 80 Jahren machen die Erstellungskosten beispielsweise nach wie vor zwischen 43 und 51 Prozent der kumulierten Kapitalkosten aus. Bei den Bürobauten und Schulbauten sind die Bewirtschaftungsund Erneuerungskosten im Vergleich zu den kumulierten Kapitalkosten besonders relevant.
Die kumulierten Kapitalkosten sind bei Bürobauten am höchsten und bei Wohnbauten am geringsten. Eine mögliche Interpretation wäre, dass sich die Anforderungen an Büro- und Schulbauten über den Lebenszyklus stärker verändern als bei Wohn- oder Gewerbebauten. Die Divergenzen in der Entwicklung der kumulierten Kapitalkosten zwischen den verschiedenen Nutzungsarten sind beträchtlich, mit Unterschieden von bis zu 36 Prozent bei einer Nutzungsdauer von 80 Jahren.
Schlussfolgerungen
Bei der Interpretation der jüngsten computerbasierten Simulationen müssen einige Aspekte berücksichtigt werden – denn obwohl die technisch fundierten Lebenszykluskosten eine hohe Verlässlichkeit haben, ist es nicht möglich, sämtliche getroffenen Annahmen zum wirtschaftlichen Umfeld mit voller Sicherheit in die Zukunft zu prognostizieren. Selbst bei einer Verkürzung des Betrachtungszeitraums auf 40 bis 60 Jahre bleibt eine gewisse Unsicherheit in der Prognose bestehen, da einige Einflussfaktoren über einen mehrere Jahrzehnte andauernden Zeitraum erhebliche Veränderungen erfahren können. Dies gilt besonders, wenn Kapitalkosten einbezogen werden.
So konnte beispielsweise niemand vorhersehen, dass in der Schweiz in den letzten Jahren zeitweise sogar Negativzinsen auftreten würden. Solche unvorhergesehenen Entwicklungen und Preisänderungen lassen sich nicht einfach fortschreiben. Auch wenn die Ungewissheit bezüglich der zukünftigen Entwicklung der massgeblichen Faktoren nicht vollständig beseitigt werden kann, ist ihr Einfluss auf die Lebenszykluskosten jedoch abschätzbar und kann mittels kritischer computergestützter Sensitivitätsanalysen simuliert werden.
Welche Schlüsse lassen sich nun aus dieser Analyse und den diskutierten Überlegungen ziehen? Sieben Feststellungen stehen im Vordergrund:q
- Für die unter dem ökonomischen Aspekt der Nachhaltigkeit von Immobilien zwingende Berücksichtigung der Lebenszykluskosten stehen heute KI-basierte Simulationsmodelle bereit.
- Die Analyse zeigt, dass die gängige Faustregel (20% Investitions-, 80% Folgekosten) bei keinem einzigen Objekttyp effektiv nachgewiesen werden kann. Bei einer angenommenen Lebensdauer von 60 Jahren beläuft sich das Verhältnis von Investitions- zu Folgekosten bei allen Objekttypen auf etwa 50 zu 50 Prozent.
- Die Lebenszykluskosten einer Immobilie sollten alle Ausgaben abdecken, inklusive des Grundstückerwerbs. Das schliesst Verwaltungs-, Betriebs-, Instandsetzungs-, Liquidations- und Kapitalkosten sowie Wertberichtigungen mit ein. Nur so lässt sich eine betriebswirtschaftlich korrekte und aussagekräftige Kostenrechnung sicherstellen.
- Es ist festzuhalten, dass die Auswertung von Investitions- und Folgekosten bei Bauvorhaben und einzelnen Komponenten schon in sehr frühen Projektphasen Sinn macht, etwa im Rahmen von Architekturwettbewerben.
- Die fünfte Feststellung gilt dem Betrachtungszeitraum bei der Immobilienbewertung: In der Regel genügen 40 bis 60 Jahre.
- Generell ist der dynamischen Berechnung der Lebenszykluskosten der Vorzug zu geben, da der Zeitpunkt der einzelnen Zahlungsströme von entscheidender Relevanz ist.
- Bei der Ermittlung von Lebenszykluskosten sind Teuerungseinflüsse und Preisänderungen zu berücksichtigen. Der dabei gegebenen hohen Prognoseungewissheit ist mittels kritischer Sensibilitätsanalysen beizukommen.